Magie der Märchen (vom 29.11.2020)
Die Autoren betreten die mythische Welt der Frau Holle und decken auf, wie die germanische Sagenfigur ins Märchen kam.
Der Brunnen als Tor in die fantastische Welt der Frau Holle. Sie belohnt die Fleißigen, bestraft die Faulen. Wie kein anderes Märchen offenbart die Erzählung, wie nachhaltig die bürgerliche Moralvorstellung des 19. Jahrhunderts das Frauenbild damals geprägt hat.
Frau Holle lässt es schneien, wenn sie die Betten aufschüttelt – das haben wohl viele schon einmal gehört und sich gewundert, wie das sein kann. In dem Märchen stecken aber noch mehr Geheimnisse, die nicht auf den ersten Blick zu entschlüsseln sind. Eines davon ist der Brunnen – ein mit vielfachen Bedeutungen aufgeladener Ort. Am Brunnen sitzen in der germanischen Mythologie die Nornen, die für die Menschen den Schicksalsfaden spinnen. Im Märchen der Brüder Grimm ist er das Durchgangstor in eine andersartige, fantastische Welt.
Doch auch in der realen Welt spielt der Brunnen eine zentrale Rolle. Brunnen sorgen seit jeher für das lebensnotwendige Wasser. Und über Jahrhunderte trafen sich am Brunnen vor allem die jungen Frauen. Der Ort war eine Börse für Gerüchte und ein Fokus des sozialen Lebens.
"Frau Holle" ist vor allem eine Geschichte über zwei junge Frauen, die Goldmarie und die Pechmarie. Es ist das einzige bekannte Märchen, in dem nur Frauen auftreten. Wie sahen ihre Lebenswelten aus, ihre Lebensentwürfe und Optionen?
Darum geht es auch in dieser Dokumentation. Das Märchen entstand in der Form, wie wir es kennen, in der Biedermeierzeit. Die Geschichte von der fleißigen Goldmarie und der faulen Pechmarie sollte eine Art "moralische Leitlinie" für die "sittsame Frau" sein. Für Dienstmädchen gab es später sogar ein Handbuch mit präzisen Verhaltensregeln. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung des Bürgertums landeten immer mehr junge Frauen vom Land in den Haushalten der wohlhabenden Städter. Im Märchen ist der Schauplatz das magische Reich von Frau Holle. Dort treffen zwei Welten aufeinander – die von der übermächtigen Frau Holle und die von zwei ganz normalen Mädchen, die auf die Probe gestellt werden.
Frau Holle selbst hat ihren ersten Auftritt erst ziemlich spät in dem Märchen. Sie ist eine rätselhafte Figur. Wer eigentlich dahintersteckt, darüber streiten sich schon seit Langem die Forscher. Einigkeit besteht nur darin, dass sie mit uralten weiblichen Gottheiten zusammenhängt. Die altrömische Diana, die germanische Freya – viel spricht dafür, dass Frau Holle mit diesen und anderen in eine Reihe zu stellen ist.
Und eine Erklärung gibt es selbst dafür, dass die Erinnerung an diese mythische Figur sonst weitgehend verschwunden ist: Die Mönche, die vor mehr als tausend Jahren im heutigen Deutschland das Christentum verbreiteten, haben gründliche Arbeit geleistet. Auch in der damals neuen Religion gibt es eine weibliche Figur, die im Volk bald große Verehrung genießt: die Mutter Maria. Im fränkischen Amorbach und in Würzburg kann man sehen, wie Stätten der Anbetung heidnischer Göttinnen umgewidmet und an ihrer Stelle Kapellen für die Muttergottes gebaut wurden. Nur im Alpenland hat eine späte Ausprägung des heidnischen Kultes überlebt: im "Perchtenlauf", der bis heute immer zum Jahreswechsel große Zahlen von Besuchern anzieht.
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