Gedanken für den Tag Mit den Augen des Kindes

Sa, 22.06.  |  6:57-7:00  |  Ö1
von Wolfgang Müller-Funk, Literaturwissenschaftler

Kindsein bedeutet Weltentdeckung. Aufspüren von Dingen und Worten. Meine zweitälteste Enkelin lernt den zweiten Bezirk so eigenständig kennen wie ich vor mehr als sechs Jahrzehnten. Was für sie neu ist, das ist für mich ein Akt des Erinnerns. Dass meine Mutter in der nach einem josephinischen Aufklärungsschriftsteller benannten Blumauergasse geboren wurde und meine tschechische Urgroßmutter verstarb, während mein Großvater im Wohnzimmer Konversation pflegte, interessiert sie wenig. Erinnerungsorte: Geschäfte, die es nicht mehr gibt und von denen nur ein Schriftzug wie K. u. k.-Hoflieferant übriggeblieben ist. Die diversen Lettern, alte Bars und schäbige Vergnügungsetablissements, deren Funktion mir damals gänzlich unverständlich blieb. Vieles ist verblichen oder verschwunden: Handwerks- oder Feinkostgeschäfte. Der Karmelitermarkt, seinerzeit preiswerter und geselliger Einkaufsort vor dem Supermarkt, ist heute ein schicker Treff für Bobos. Ich steh mit meiner Enkelin vor dem Haus Pillersdorfgasse, wo mein Großvater und der Freistilringer Blemenschütz gewohnt haben. Ich sehe mich an jenem Fenster unserer Wohnung, von dem aus ich auf die Heinestraße schaue und beobachte, wie der 24er-Wagen, mit dem wir zuweilen ins Gänsehäufel zum Baden fuhren, in der Mühlfeldgasse verschwindet. Ich erinnere mich, wie ich in den 1960er Jahren vom Schaffner gemessen wurde, ob meine Größe schon mehr als einen Meter fünfzig betrug und ich wie die Erwachsenen einen rosa Vorverkaufsfahrschein benötigte. Niemals ist mein Erwachsenwerden derart exakt bestimmt worden.Am Eingang zum Gänsehäufel, wo halb Wien zum Baden zu gehen schien, die Kassa, schräg davor ein Mann, der – für 50 Groschen oder für einen Schilling? – mit einer Holzzange eine große Salzgurke aus einem voluminösen Behälter zauberte. Manchmal ist Glück federleicht zu haben.

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